Scham Evolution
“Scham wird durch eine plötzliche visuelle Bloßstellung ausgelöst und zielt auf den Wunsch, sich vor den Blicken der anderen zu verbergen.” (Léon Wurmser, Die Maske der Scham)
Sicherlich haben Sie schon Sätze wie “Du brauchst dich doch nicht zu schämen” oder “dir schaut schon keiner etwas weg” gehört. Dabei schämen sich Erwachsene oft mehr und für eine breitere Palette von Dingen als Kinder. Diese Aussagen können daher rühren, dass wir Kindern häufig ihr Schamgefühl absprechen oder sich noch gut an die Zeit erinnern können, als sie unbeschwert nackt durch den Rasensprenger liefen.
Die plötzliche Scham, die Kindergartenkinder erleben, spiegelt jedoch nicht nur unsere gesellschaftlichen Konventionen wider. Tatsächlich ist den meisten Wissenschaftler*innen keine Kultur bekannt, in der es keine Genitalscham gibt, selbst bei Naturvölkern, die fast ausschließlich nackt leben. Ein Beispiel hierfür ist, dass südamerikanische Yanomami-Frauen sich lediglich mit einer dünnen Schnur um die Hüften bedecken, aber dennoch Scham empfinden würden, wenn man sie auffordern würde, diese abzulegen.
Die Forschung deutet darauf hin, dass Scham sich im Laufe der Evolution in die menschliche Psyche eingebettet hat. Grund kann der aufrechte Gang sein, der die empfindlichen Genitalien offen legte und sie nicht mehr schützend unter dem Körper bewahrte.
Die Schamentwicklung
Das erste Gefühl von Scham erleben Kinder mit ca. 2-3 Jahren. Dies hängt mit der Gehirnentwicklung zusammen, da Kinder sich nun nicht mehr als subjektives-Ich, sondern als Objekt begreifen. Sie lernen, dass ihr Handeln von der Außenwelt betrachtet und bewertet werden kann. Dies kann bei Misserfolgen durch eine kritische Reaktion eines Erwachsenen zu einem Schamgefühl führen.
Das Schamgefühl in Bezug auf die Genitalien entwickelt sich bei Kindern in etwa ab dem fünften Lebensjahr, beeinflusst von vorherigen Entwicklungsstufen des Gehirns.
Mit ungefähr vier Jahren können Kinder zwischen Realität und Fantasie unterscheiden, sie erkennen die Verschiedenheit der Gedanken und Beweggründe anderer Menschen und können sich in unterschiedliche Rollen hineinversetzen. Diese Fähigkeiten werden mit etwa fünf Jahren bewusster, und Kinder lernen, dass es eine “innere Welt” gibt, die vor anderen verborgen werden kann, einschließlich der Fähigkeit zu lügen. Das Bewusstsein, dass die eigenen Genitalien angenehme Empfindungen auslösen können, wird als Geheimnis betrachtet. Gleichzeitig erkennen Kinder die Unterschiede zwischen sich und anderen, insbesondere in Bezug auf Geschlecht und Generation. Diese Unterschiede können Schamgefühle hervorrufen.
(Das Vorschulprojekt: “Das kleine rote Nein” beschäftigt sich mit Grenzen und dem Schamgefühl)
Schambesetzte Sprache
Die deutsche Sprache trägt zur Verwurzelung der Scham bei, indem sie Begriffe wie “Schamhaare” oder “Schamlippen” verwendet, die suggerieren, dass bestimmte Körperteile von Natur aus schamhaft sind. Gleichzeitig werden Ausdrücke für den Intimbereich häufig verniedlicht oder sogar ganz vermieden (Pipimann, Mumu, da unten, zwischen den Beinen…).
Scham und Ekel
Penis, Vulva, Vagina und Anus zählen zu unseren Ausscheidungsorganen. Urin und Kot sowie Menstruationblut sind Ausscheidungsprodukte, die wir selten in der Öffentlichkeit verrichten. Wir suchen uns dafür ein “stilles Örtchen” und selbst der wildpinkelnde Mann wendet seinen Rücken der Straße zu.
Neben Scham für diese Körperregionen empfinden wir gleichzeitig Ekel für das, was sie produzieren. Alles was unseren Körper verlässt, empfinden wir als eklig und abstoßend und das gilt nicht nur für die untere Körperregion. Erbrochenes oder Ohrenschmalz und manchmal auch Popel wirkt auf uns abstoßend. Dabei erhöht sich der Ekel-Score, je länger sich die Sekrete aus unserem Körper befinden.
Kinder essen noch recht unbedarft und ekelfrei ihre eigenen Popel, spuken Saft zurück ins Glas um es anschließend wieder zu trinken. Doch schlägt man vor, die Popel in einer Schachtel zu sammeln, um sie für später aufzuheben, ist für die meisten Kinder auch da eine Grenze erreicht und sie ekeln sich.
Scham als Chance
Scham ist also ein fester Bestandteil unseres Lebens. Wie die Sexualität ist auch die Scham eine Lebenskraft, die zwar nicht beseitigt, aber lern- und veränderbar sein kann. Scham schützt uns vor sozialer Ausgrenzung, indem sie uns dazu zwingt, soziale Regeln und Normen einzuhalten. Sie passt sich den kulturellen und sozialen Bedingungen an, in denen wir leben und agieren. Scham kann verschiedene Ausdrucksformen annehmen und ist aus verschiedenen Quellen gespeist. Im Umgang mit Kindern und unserer Familie sollte Scham ein Gefühl sein, das besprechbar ist . Wir sollten unsere Erwachsene Scham nicht auf unsere Kinder projizieren, vor allem dann nicht, wenn sie die kindliche Entwicklung und Neugier beeinflusst.
(Diverse Quellen; u.a. Körperscham und Ekel. Wesentlich menschliche Gefühle und ihre Schutzfunktion)
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